Hallo HannsGschaft,
ich habe das vom Wissenschaftlichen Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU) veröffentlichte Hauptgutachten: „
Welt im Wandel – Gesellschaftsvertrag für eine Große Transformation“ in der „
Zusammenfassung für Entscheidungsträger“ gelesen (
http://www.wbgu.de/hauptgutachten/hg-2011-transformation/) und halte es für einen äußerst interessanten und fortschrittlichen Beitrag zur Lösung der Klimakrise.
Ich möchte im Folgenden durch einige Zitate das Wesentliche an diesem Gutachten herausstellen und wenn nötig, an entsprechender Stelle meine Bedenken äußern:
1. Der WBGU geht davon aus, dass zur erfolgreichen Bekämpfung der Klimakrise ein neuer Gesellschaftsvertrag für eine Große Transformation benötigt wird. „Dies erfordert nach Ansicht des WBGU die Schaffung eines nachhaltigen Ordnungsrahmens, der dafür sorgt, dass Wohlstand, Demokratie und Sicherheit mit Blick auf die natürlichen Grenzen des Erdsystems gestaltet und insbesondere Entwicklungspfade beschritten werden, die mit der 2 °C-Klimaschutzleitplanke kompatibel sind. Auf letztere hat sich die Weltgemeinschaft 2010 in Cancún verständigt. Die Weichenstellungen dafür müssen im Verlauf dieses Jahrzehnts gelingen, damit bis 2050 die Treibhausgasemissionen weltweit auf ein Minimum reduziert und gefährliche Klimaänderungen noch vermieden werden können. Der Zeitfaktor ist also von herausragender Bedeutung.“
2. „Fasst man diese Anforderungen an die vor uns liegende Transformation zusammen, wird deutlich, dass die anstehenden Veränderungen über technologische und technokratische Reformen weit hinausreichen: Die Gesellschaften müssen auf eine neue „Geschäftsgrundlage“ gestellt werden.
Es geht um einen neuen Weltgesellschaftsvertrag für eine klimaverträgliche und nachhaltige Weltwirtschaftsordnung. Dessen zentrale Idee ist, dass Individuen und die Zivilgesellschaften, die Staaten und die Staatengemeinschaft sowie die Wirtschaft und die Wissenschaft kollektive Verantwortung für die Vermeidung gefährlichen Klimawandels und für die Abwendung anderer Gefährdungen der Menschheit als Teil des Erdsystems übernehmen. Der Gesellschaftsvertrag kombiniert eine Kultur der Achtsamkeit (aus ökologischer Verantwortung) mit einer Kultur der Teilhabe (als demokratische Verantwortung) sowie mit einer Kultur der Verpflichtung gegenüber zukünftigen Generationen (Zukunftsverantwortung).“
3. „Ein zentrales Element in einem solchen Gesellschaftsvertrag ist der „gestaltende Staat“, der für die Transformation aktiv Prioritäten setzt, gleichzeitig erweiterte Partizipationsmöglichkeiten für seine Bürger bietet und der Wirtschaft Handlungsoptionen für Nachhaltigkeit eröffnet. Der Gesellschaftsvertrag umfasst auch neue Formen globaler Willensbildung und Kooperation. Die Schaffung eines dem Weltsicherheitsrat ebenbürtigen „UN-Rates für Nachhaltige Entwicklung“ sowie die Bildung internationaler Klimaallianzen zwischen Staaten, internationalen Organisationen, Städten, Unternehmen, Wissenschaft und zivilgesellschaftlichen Organisationen wären hierfür Beispiele.“
4. „Der WBGU begreift den nachhaltigen weltweiten Umbau von Wirtschaft und Gesellschaft als „Große Transformation“. Auf den genannten zentralen Transformationsfeldern müssen Produktion, Konsummuster und Lebensstile so verändert werden, dass die globalen Treibhausgasemissionen im Verlauf der kommenden Dekaden auf ein absolutes Minimum sinken und klimaverträgliche Gesellschaften entstehen können. Das Ausmaß des vor uns liegenden Übergangs ist kaum zu überschätzen. Er ist hinsichtlich der Eingriffstiefe vergleichbar mit den beiden fundamentalen Transformationen der Weltgeschichte: der Neolithischen Revolution, also der Erfindung und Verbreitung von Ackerbau und Viehzucht, sowie der Industriellen Revolution, die von Karl Polanyi (1944) als „Great Transformation“ beschrieben wurde und den Übergang von der Agrar- zur Industriegesellschaft beschreibt.“
5. „Die bisherigen großen Transformationen der Menschheit waren weitgehend ungesteuerte Ergebnisse evolutionären Wandels. Die historisch einmalige Herausforderung bei der nun anstehenden Transformation zur klimaverträglichen Gesellschaft besteht darin,
einen umfassenden Umbau aus Einsicht, Umsicht und Voraussicht voranzutreiben. Die Transformation muss auf Grundlage wissenschaftlicher Risikoanalysen zu fortgesetzten fossilen Entwicklungspfaden nach dem Vorsorgeprinzip antizipiert werden, um den historischen Normalfall, also eine Richtungsänderung als Reaktion auf Krisen und Katastrophen, zu vermeiden.“
Meine Bedenken: Wenn man feststellt, dass die bisherigen großen Transformationen der Menschheit weitgehend ungesteuerte Ergebnisse evolutionären Wandels waren, dann darf man nicht erwarten, dass die nun anstehende große Transformation zur klimaverträglichen Gesellschaft nach einem vorgefassten Schema der Experten ablaufen wird. Die Etappen des evolutionären Geschehens können nicht subjektiv festgelegt werden; „
es ist nicht möglich, dass der revolutionäre Wille der Retter die ablaufenden Prozesse im Weltmaßstab und in großen Zeitdimensionen entscheidend beeinflussen kann. Im Gegenteil, das globale und historische Szenario wird sich um individuelle Meinungen wenig kümmern und sich selbst durchsetzen.“ (Halil Güvenis,
Lösung der Klimakrise im Rahmen der Zusammenbruchskrise des Kapitalismus, S. 97. Aachen: Shaker, 2011) Von daher wäre an dieser Stelle angebracht, zunächst nach objektiven Bedingungen der historischen Entwicklung zu fragen und erst dann den „
umfassenden Umbau aus Einsicht, Umsicht und Voraussicht“ zu bestimmen.
6. „Die Vorstellung vom neuen Gesellschaftsvertrag bezieht sich auf die Notwendigkeit, dass die Menschheit kollektive Verantwortung für die Vermeidung gefährlichen Klimawandels und anderer planetarischer Risiken übernimmt. Das erfordert zum einen die freiwillige Beschneidung von Optionen herkömmlichen Wirtschaftswachstums zugunsten der Sicherung von Freiheitsspielräumen der davon besonders heute schon betroffenen Teile der Menschheit und vor allem künftiger Generationen. Zum anderen erfordert die Transformation einen starken Staat, der ausbalanciert werden muss durch erweiterte Teilhabe der Bürgerinnen und Bürger.“
Meine Bedenken: „
Die freiwillige Beschneidung von Optionen herkömmlichen Wirtschaftswachstums“ ist schlichtweg eine Utopie, solange man nicht den objektiven Weg zeigt, auf dem die Gesellschaft zu diesem idealen Zustand gelangen wird. „
Wirtschaftswachstum ist ein Prozess, der unabhängig vom Willen einzelner Personen und Menschengruppen historisch gewachsen ist und sich durch Mehrheitsbeschlüsse überhaupt nicht aufheben lässt; selbst wenn der Wille der gesamten Menschheit hinter diesen Beschlüssen stünde, ließe sich das Wirtschaftswachstum nicht durch ein neues Prinzip ersetzen!“ (ebd.)
7. „Die Idee des Gesellschaftsvertrages knüpft an Vorlagen im Naturrecht der frühen Moderne an, seine Neuauflage steht heute im Wesentlichen vor vier Herausforderungen:
1. Der nationale Territorialstaat kann aufgrund der fortschreitenden wirtschaftlichen und kulturellen Globalisierung nicht länger als alleinige Grundlage des Vertragsverhältnisses angenommen werden. Seine Bewohner müssen grenzüberschreitende Risiken und Naturgefahren sowie die legitimen Interessen Dritter, nämlich anderer Mitglieder der Weltgesellschaft, verantwortlich einbeziehen.
2. Die herkömmliche Vertragslehre ging von der Fiktion völliger Gleichheit aller Gesellschaftsmitglieder aus. Angesichts der disparaten Verteilung von Ressourcen und Fähigkeiten in der heutigen Weltgesellschaft müssen gerechte globale Ausgleichsmechanismen greifen.
3. Die natürliche Umwelt muss stärker in die Rekonstruktion des Gesellschaftsvertrages einbezogen werden.
4. Der Vertrag muss zwei wichtige neue Akteure in Rechnung stellen: die selbst organisierte Zivilgesellschaft und die wissenschaftliche Expertengemeinschaft.“
Meine Bedenken: Der WBGU stellt ganz korrekt fest, dass wir heute vor einer historischen Situation stehen, die vergleichbar ist mit den Verhältnissen vor der Französischen Revolution. Die geschichtliche Herausforderung damals bestand darin, in Opposition zum feudalabsolutistischen Ständestaat die Konzeption eines Nationalstaates und einer Nationalversammlung zu entwickeln; der Gesellschaftsvertrag fand seinen Ausdruck in einer nationalstaatlichen Verfassung, die sich eindeutig auf die zuvor feierlich proklamierte Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte (1789) berief. Wenn der WBGU nun grundsätzlich feststellt, dass der Nationalstaat, die Nationalversammlung und die Nationalverfassung durch die geschichtliche Entwicklung an ihre Grenzen gestoßen sind, dann ist es vollkommen logisch, im nächsten Schritt die Konzeption des
Weltstaates, des
Weltparlaments und der
Weltverfassung zu entwickeln. Das tut aber der WBGU nicht und versucht die Herausforderungen des neuen Gesellschaftsvertrages zu bestimmen, ohne das Kind beim Namen zu nennen. (Wenn man bedenkt, dass der WBGU im Auftrag der Bundesregierung steht, dann kann man verstehen, dass verfassungsrechtlich gesehen die nationalstaatlichen Grenzen nicht überschritten werden dürfen.)
8. „Der neue Gesellschaftsvertrag ist ein Veränderungskontrakt: Die Weltbürgerschaft stimmt Innovationserwartungen zu, die normativ an das Nachhaltigkeitspostulat gebunden sind, und gibt dafür spontane Beharrungswünsche auf. Garant dieses virtuellen Vertrages ist ein gestaltender Staat, der für die Zustimmung zu Nachhaltigkeitszielen die Bürgerschaft an den zu treffenden Entscheidungen beteiligt. Damit wird eine Kultur der Achtsamkeit (aus ökologischer Verantwortung) mit einer Kultur der Teilhabe (als demokratischer Verantwortung) sowie mit einer Kultur der Verpflichtung gegenüber zukünftigen Generationen (Zukunftsverantwortung) verbunden. Von der Bürgergesellschaft wird keineswegs eine oberflächliche oder gar resignierte Akzeptanz nachgefragt: Sie wird vielmehr als Mitgestalterin für das Gelingen des Transformationsprozesses anerkannt und in Bewegung gesetzt und legitimiert den Prozess dadurch. Die Idee des gestaltenden Staates ist also untrennbar verbunden mit der Anerkennung der Zivilgesellschaft und der innovativen Kräfte in Wirtschaft, Wissenschaft und Verwaltung.“
Meine Bedenken: Um innerhalb extrem kurzer Zeit die Veränderung zu einer klimaverträglichen und nachhaltigen Gesellschaft zu gewährleisten, entwirft der WBGU eine Rollenverteilung zwischen Staat und Weltbürgerschaft, die stark an die Zustände im real existierenden Sozialismus oder in der Französischen Revolution zur Zeit der Terror-(Jakobiner)herrschaft (1792-94) erinnert. Um Missverständnissen vorzubeugen, wäre es hier angebracht gewesen, die „große Transformation“ mit der Terrorherrschaft in der Französischen Revolution und mit dem real existierenden Sozialismus zu vergleichen. Da dies jedoch nicht geschieht, muss sich der WBGU gefallen lassen, dass hier im Namen des Klimaschutzes eine Ökodiktatur errichtet wird.
9. „Die Transformation ist ein gesellschaftlicher Suchprozess, der durch Experten unterstützt werden sollte. Forschung hat dabei die Aufgabe, im Zusammenspiel mit Politik, Wirtschaft und Gesellschaft klimaverträgliche Gesellschaftsvisionen aufzuzeigen, unterschiedliche Entwicklungspfade zu beschreiben sowie nachhaltige technologische und soziale Innovationen zu entwickeln. Gleichzeitig sollte das Gerüst für eine Kultur der Teilhabe in der Gesellschaft gestärkt werden. Zu diesem Zweck sollte Bildung die Menschen in die Lage versetzen, Problembewusstsein zu entwickeln, systemisches Denken zu erlernen sowie verantwortlich zu handeln. Die Förderung von Forschung und Bildung sind daher zentrale Aufgaben des modernen gestaltenden Staates, der die Einbindung der wissenschaftlichen Expertengemeinschaft in den Gesellschaftsvertrag gezielt unterstützen sollte.“
Meine Bedenken: Gewisse Ähnlichkeiten mit dem real existierenden Sozialismus sind hier unverkennbar: Die wissenschaftliche Expertengemeinschaft könnte zum Beispiel mit Marxisten-Leninisten identifiziert werden. Und die Forschung und die Bildung könnten an die Stelle des historischen und dialektischen Materialismus treten, die der Gesellschaft durch die Staatsgewalt aufoktroyiert werden. Die Teilhabe der Gesellschaft an technologischen und sozialen Innovationen würde dann die Belohnung der Weltbürger darstellen, die beim Erlernen der Staatsideologie besonders strebsam und fügsam waren… Diese Ähnlichkeitssuche ist erlaubt, weil sich der WBGU von Zuständen im real existierenden Sozialismus nicht ausdrücklich distanziert. – Was geschieht eigentlich mit Andersdenkenden, also mit solchen Leuten, die ihren „spontanen Beharrungswünschen“ nicht abtrünnig werden können? Diesen Punkt lässt der
„Gesellschaftsvertrag für eine Große Transformation“ ungeklärt.
10. „
FazitDer „fossilnukleare Metabolismus“ der Industriegesellschaft hat keine Zukunft. Je länger wir an ihm festhalten, desto höher wird der Preis für die nachfolgenden Generationen sein. Doch es gibt Alternativen, die allen Menschen zumindest die Chance auf ein gutes Leben in den Grenzen des natürlichen Umweltraumes eröffnen können. Ohne eine weltweite Übereinkunft, diese Alternativen tatsächlich zu wagen, werden wir nicht aus der Krise der Moderne herausfinden. Nichts weniger als ein neuer
Contrat Social muss also geschlossen werden. Dabei wird die Wissenschaft eine entscheidende, wenngleich dienende Rolle spielen. Nachhaltigkeit ist nicht zuletzt eine Frage der Phantasie.“
Meine Bedenken: Ein Weltgesellschaftsvertrag tut also Not und der Wissenschaft wird eine entscheidende Rolle bei dieser weltweiten Übereinkunft zugedacht… Meiner Meinung nach ist das ein rationalistischer Standpunkt. Wenn man bedenkt, dass der überwiegenden Mehrheit der Menschen auf der Erde das wissenschaftliche Paradigma rein von ihrer Vorbildung her nicht zugänglich ist, dann wird einem klar, dass bei der weltweiten Übereinkunft eine über den wissenschaftlichen Standpunkt hinausgehende Instanz dafür sorgen muss, dass die Menschen mit ihrem ganzen Herzen an den großen Gesellschaftsvertrag gebunden sind. Ohne diese Instanz wird es keinen „
Gesellschaftsvertrag für eine Große Transformation geben… Meiner Meinung nach braucht die Weltgemeinschaft für diesen Zweck nicht den Rationalismus der Pioniere, sondern die „multikulturelle Demokratie der Weltvisionäre“ (Halil Güvenis,
Lösung der Klimakrise im Rahmen der Zusammenbruchskrise des Kapitalismus, S. 127 ff. Aachen: Shaker, 2011).
Viele Grüße aus Istanbul
Halil Güvenis