Das Geldrätsel: Bodensatztheorie

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Geschichte

1857 hat Adolf Wagner in seinem Buch [1] "Beiträge zur Lehre von den Banken" die "goldene Bankregel" von Otto Hübner geändert und ergänzt. Wagner stellte fest:

"Wenn die stets fälligen Verbindlichkeiten, also Depositen und Noten, auch stets fällig sind und also jeden Augenblick müssen eingelöst werden können, so ist es eben eine erfahrungsgemäss festgestellte Tatsache, dass sie nicht alle gleichzeitig von den Gläubigern der Bank gekündigt werden. Es muss deshalb empirisch das Verhältnis des Baarfonds zu den Verbindlichkeiten gefunden werden."

und weiter:

"Es wäre ganz richtig zu sagen, ein stets fälliges Deposit darf nicht verwendet werden, aber es ist ganz unrichtig, daraus den Schluss zu ziehen, dass 1000 stets fällige Depositen ebenfalls nicht verwendet werden dürfen."


Um die Aussagen Wagners richtig einzuordnen ist zu beachten,

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dass zu dieser Zeit die Banken noch eigene Banknoten ausgaben. Bei Einlösung waren diese mit "Baarem", dass heißt mit Gold- oder Silbermünzen auszuzahlen. Nur diese zählten als echtes Geld. Die Banknoten wie auch die Sichteinlagen (Depositen) stellten Schulden der Bank dar.

Aus Erfahrung wussten die Banken jedoch, dass niemals sämtliche Noten und Sichteinlagen gleichzeitig zur Auszahlung gelangten. Es reichte, wenn ein gewisser Prozentsatz an Bargeld vorhanden war. Die für den Zahlungsverkehr nicht benötigten Geldmittel wurden entsprechend als "Bodensatz" bezeichnet.

Adolf Wagner war ein Anhänger der orthodoxen Geldtheorie und lehnte die Idee der Geldschöpfung nach McLeod strikt ab.[2] Er war der Meinung, dass es gemäß den Bankstatuten für eine moderne Bank erforderlich sei, Geld der Bankkunden nicht nur aufzubewahren sondern damit auch Handel zu treiben.[3] Nun ist das Handeln allgemein nicht zu beanstanden, unseriös erscheint hingegen die Vorgehensweise der Banken bei diesem Vorgang. Die Banken unterscheiden sich von anderen Wirtschaftsunternehmen in erster Linie dadurch, dass sie das Privileg besitzen, Einlagen entgegenzunehmen und zu verwalten. Die ursprünglichen Depositen- und Girobanken waren reine Verwahranstalten für Kundengelder, bei letzteren mit der Serviceleistung verbunden, Übertragungen von Guthaben auf Kontenblättern von einem Bankkunden zu einem anderen zu ermöglichen. Kunden zahlten Bargeld bei der Bank ein und erhielten dafür leichter zu handhabende Banknoten oder entsprechende Bankguthaben. Da die zirkulierenden Banknoten nicht täglich für Auszahlungen vorgelegt und auch die Giroguthaben nicht täglich für Überweisungen an andere Banken beansprucht wurden, häuften sich in den Tresoren der Bank "tote Capitalien" an, welche für Auszahlungen und den Zahlungsverkehr nicht benötigt wurden. Wagner sah es nun als Aufgabe einer modernen Bank an, mit diesen "Capitalien" Handel zu treiben, dass heißt diese auszuleihen.

Die Banken verliehen nun ohne Wissen der Kunden die eingelagerten Gold- und Silbermünzen oder aber gingen zu dem noch eleganteren und effektiveren Verfahren über, bedeutend mehr Banknoten auszugeben wie an Gold- und Silbermünzen im Tresor lagerte. Kredite an Kunden wurden dann nicht mehr mit "baarem" Geld ausgezahlt sondern mit Banknoten. Die Banknotenausgabe war gegenüber der Barauszahlung theoretisch an keine Grenzen gebunden, führte jedoch zum Verlust des Vertrauens in die Bank und zu einem Bankzusammenbruch, wenn diese übermäßig hiervon Gebrauch machte. Die Ausgabe von Banknoten wurde Anfang des 19. Jahrhunderts durchaus kritisch gesehen, wie der Brockhaus von 1809 und andere Schriften über "Zettelbanken" belegen. Ein Auszug aus Ein Blick in die Geschichte der Zettelbanken in Europa und auf die Einrichtung einer Nationalbank in Baiern.

"Jede Zettelbank in Europa hat bisher die Kräfte der jeweiligen Nation überfordert. Würden die Menschen aus der Geschichte lernen, müsste jede Nation sich glücklich preisen, welche die verheerende Wirkung einer Zettelbank nicht kennenlernen musste."


Eine Regulierung fand schließlich im "deutschen Bankgesetz" von 1875 statt, welche die Dritteldeckung, das heißt ein Verhältnis von 1:3 festlegte.[4] Besaß die Bank z. B. Goldmünzen im Wert von 1 Mill. Goldmark, so durfte sie Banknoten im Wert von 3 Mill. Goldmark ausgeben. Dies legt nahe, dass die Bank die ausgegebenen Banknoten nur zu einem Drittel gedeckt habe. Würden sämtliche Banknoten zur Auszahlung vorgelegt, könnten nur 33% voll bedient werden. Nicht beachtet wird dabei, dass die Kreditvergabe nicht ohne Zahlungsversprechen der Kreditnehmer, überwiegend mit Hinterlegung von Sicherheiten, erfolgte. Dieser Zusammenhang wurde im Kapitel "Bank von England" detailliert erläutert. Damit war eine Absicherung der übrigen zwei Drittel sehr wohl vorhanden, auch wenn die zeitliche Realisierung der Umwandlung in Bargeld sich etwas langwieriger gestaltete.

Das grundsätzlich die Entnahme des hinterlegten Bargeldes als Missbrauch angesehen wurde belegt der Brockhaus-Eintrag von 1896 unter dem Stichwort "Banken": [5]

"Aus der ursprünglich von B. zum Teil nur mißbräuchlich geschehenen Verwertung der hinterlegten Beträge entwickelte sich sodann im Laufe der Zeit eine geordnete und erlaubte Verwendung derselben, wodurch die B. in die Lage kamen, nicht nur auf die Einhebung von Gebühren für die Einlagen verzichten zu können, sondern selbst dafür Zinsen zu entrichten."

Deutlich wird aus diesem Eintrag jedoch auch, dass die Deckung der Banknoten durch Zahlungsversprechen der Kreditnehmer nicht im Blickfeld der Verfasser lag.

Ermittlung des Bodensatzes

Der in einer Bank vorhandene Bodensatz kann nicht nach vorgegebenen Formeln berechnet, sondern muss aus Erfahrungswerten gewonnen werden.

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Ein Beispiel zeigt das Diagramm mit der Betrachtung über einen Monatszeitraum. Auf der senkrechten Achse ist die Zahlungsmittelsumme aller Girokonten aufgeführt. Die Summe bewegt sich zwischen 40 und 60 Millionen €. Eine Summe von 40 Millionen € verbleibt dauerhaft auf den Girokonten. Zur Abwicklung von Auszahlungen und Überweisungen genügen also flüssige Mittel in Höhe von 20 Millionen €. Bezog sich Wagner noch auf das Verhältnis von Verbindlichkeiten (Sichteinlagen und Noten) zu "Baarfonds", ist es heute treffender, das Verhältnis von Verbindlichkeiten zu "flüssigen Mitteln" heranzuziehen.



Bodensatz heute

Die Bodensatztheorie Wagners lässt sich heute noch eindeutig im Kreditwesengesetz (KWG) erkennen. Bei der Ermittlung der Liquiditätskennzahl fließen die "täglich fälligen Verbindlichkeiten gegenüber Kunden" mit einem Anrechnungssatz von 10 % ein. Dies bedeutet, nur 10 % der Zahlungsmittelsumme auf den Girokonten muss an "flüssigen Mitteln" von der Bank vorgehalten werden. Was genau unter "flüssigen Mitteln" zu verstehen ist, wird ebenfalls im Kreditwesengesetz unter "Zahlungsmittel (Laufzeitband 1, Liquidität 1. Klasse)" definiert.

Bemerkenswert ist, dass auch Spareinlagen nach dem Kreditwesengesetz nur zu 10 % bei der Berechnung der Liquiditätskennzahl berücksichtigt werden.

Fristentransformation

Welche Bedeutung hat die Bodensatztheorie für die Fristentransformation? Sie stellt den höchsten Grad der Fristentransformation dar. Mit Zahlungsmitteln, welche die Bank nur für 1 Tag sicher besitzt, finanziert sie 10-jährige Kredite an Bankkunden. Eine Vorstellung, die auf den ersten Blick absurd erscheint, aber durch das praktische tägliche Bankgeschäft bestätigt wird. Die Ansammlung von Guthaben auf den Girokonten wird jedoch von den Banken auch gefördert. Welcher Kunde möchte gern 10 % und mehr Zinsen für einen Dispokredit bezahlen? Dann doch lieber einen positiven Kontostand, wenn auch mit 0 % Guthabenzinsen. Und schon entwickelt sich ein Bodensatz.



Einzelnachweise

<references >

  1. Adolph Wagner: Beiträge zur Lehre von den Banken. Leopold Voss, Leipzig 1857, S. 366. , vom Münchener Digitalisierungs-Zentrum digitalisiert für die Bayerische Nationalbibliothek Signatur: 7798052 Merc. 257 p Seite 167
  2. Seite 169: "Offenbar darf die Bank, wenn sie die Sicherheit ihrer Depositen nicht gefährden will, immer nur soviel von ihnen anderweitig verwenden, dass sie allen etwaigen Ansprüchen der Deponenten nachkommen kann. Sie darf also nur so weit gehen, dass sie die Depositen immer nur dann verwendet, wenn sie von ihren Eigenthümern nicht gebraucht würden. Da sie nun bei sich eine grosse Menge von Depositen stehen hat, so kann sie davon immer einen Theil ohne Risiko anlegen, indem sie die Ansprüche des Einen, dessen Depositum etwa gerade ausgeliehen ist – wenn man sich die Sache einmal zerlegt denkt – mit dem noch vorhandenen Depositum des Anderen deckt, welcher augenblicklich desselben nicht bedarf. Eben Beobachtung muss dann hier die Bank leiten, wie sie zu handeln habe. Es geht hieraus übrigens auch nochmals hervor, dass die Bank kein Capital schaffen kann, wie MacLeod behauptet hat."
  3. "Der Grund dafür, das alle Geschäfte der Banken nur so geführt werden können, dass die Realisierung der Bankverbindlichkeiten nur im höchsten Grade wahrscheinlich bleibe, liegt einfach darin, das unsere modernen Banken handeln, Gelder nicht nur aufbewahren, sondern benutzen sollen. Dies wird allgemein anerkannt, in den Bankstatuten ausdrücklich angesprochen. Fußnote: So heißt es z. B. in den Statuten der Preuss. Priv.-Banken: die Bank hat den Zweck, den Geldumlauf zu befördern und Capitalien nutzbar zu machen."
  4. Die Obergrenze der Notenausgabe wurde durch die Vorschrift der Dritteldeckung der Noten durch Gold und Reichkassenscheine festgelegt. Bankgesetz vom 14. März 1875, § 44, Abs. 3 auf Wikisource
  5. Brockhaus' Konversationslexikon, Band 2, Banken, Seite 372