Geldschöpfungsmultiplikator
Der Geldschöpfungsmultiplikator geht von einer Abhängigkeit der in der Wirtschaft befindlichen Geldmenge von einer, durch die Zentralbank beeinflussbaren Geldbasis aus. Mit diesem Multiplikator wird das Verhältnis der kaufkraftwirksamen Geldmenge zur Geldbasis bezeichnet.
Zu unterscheiden ist, ob mit dem Begriff das tatsächlich vorhandene Verhältnis benannt wird oder der maximal mögliche Multiplikator, welcher sich aus den Faktoren Bargeldabzugsquote und Mindestreserve berechnen lässt.
Geschichte
Der Geldschöpfungsmultiplikator, als maximal mögliche Vervielfachung einer gegebenen Geldbasis, wird auf Chester Arthur Phillips[1] zurückgeführt. Phillips kann man nun entgegen der allgemeinen Auffassung in der Fachliteratur kaum als Verfechter der modernen Geldschöpfungstheorie, sondern eher im Gegenteil als Anhänger der orthodoxen Kredittheorie ansehen.
Der Grundsatz der orthodoxen Theorie "Eine Bank kann nicht mehr Kredit geben, als sie selbst erhalten hat."[2] führte wohl 1920 Phillips zu der Annahme, "Jede Einlage, jedes Bankguthaben entsteht durch eine Geldeinzahlung". Bei der damaligen Gold- oder Goldkernwährung ein naheliegender Ansatz. Phillips erkannte jedoch offensichtlich nicht, dass nach der orthodoxen Theorie das "Sparguthaben" die Voraussetzung zur Erteilung eines Kredites ist und nicht die Bargeldeinzahlung. In diesem Punkt bleiben seine Aussagen ungeau.[3]
Beispiele
Hierzu nebenstehende Abbildung
mit dem Modell nach Phillips. In Dieser Tabelle wird von einer Barreserve von 10 % ausgegangen, d.h. es darf von einem vorhandenen Kassenüberschuss nur maximal 90 % als Kredit ausgereicht werden.
Nach einer Bareinlage des Kunden K1 von $1.000 kann Bank A ein Darlehen an den Kunden K2 über $900 gewähren. $100 = 10% aus der Einlage über $1.000 verbleiben bei Bank A als Kassenreserve. Der Betrag von $900 wird von K2 abgehoben und an K3 für den Erhalt einer Ware oder Leistung gezahlt. K3 zahlt die $900 bei Bank B ein und bildet damit bei Bank B eine entsprechende Überschussreserve. Bank B kann nun an den Kunden K4 ein Darlehen über $810 erteilen. Aus der ursprünglichen Bargeldmenge von $1.000 können nach unendlich vielen Wechseln von Bargeldeinzahlung, Darlehenserteilung mit Kassenreserve, Abhebung der Darlehenssumme und Weiterleitung an einen anderen Kunden, Darlehen in Höhe von insgesamt $9.000 erzeugt werden. Der, bei den einzelnen Banken verbleibende Rest an Bargeld, wird in der Spalte "Kassenreserve" aufgeführt. Die Summe entspricht dem ursprünglich bei Bank A eingezahlten Bargeldbetrag.
Wichtige, jedoch von Phillips nicht weiter beachtete Werte, enthält die Spalte "Primäreinlage (p)". Es handelt sich dabei nicht um jederzeit fällige Einlagen, nach heutigem Sprachgebrauch Sichteinlagen, sondern um längerfristig hinterlegte Einlagen, also Termin- und Spareinlagen. Der Begriff "Primäreinlage" ist Phillips Werk entnommen, täuscht jedoch eine "Sichteinlage" nur vor.
Mit der Kreditvergabe und anschließenden Barauszahlung der Kreditsumme besitzt die Bank A nur noch den 10 % Anteil (= $100) der „Primäreinlage“. Wäre diese Primäreinlage ein Sichtguthaben, könnte der Kunde K1 nach einigen Tagen sein Sichtguthaben abheben. Zur Auszahlung der $1.000 besitzt die Bank jedoch nur noch $100 als Kassenreserve. Sie wäre zahlungsunfähig, insolvent. Will die Bank dies verhindern, muss sie den Kunden K1 veranlassen, auf die Inanspruchnahme seines Sichtguthabens für die Zeit des Kredites an K2 zu verzichten. Kunde K1 spart dann. Die "Einlage auf Sicht" ist tatsächlich nur ganz kurzfristig vorhanden. Nach Einzahlung wird sie sofort in ein Sparguthaben umgewandelt. Maßgeblich für den Kredit ist nun der Verzicht des "einlegenden Kunden" auf die Nutzung seines Sichtguthabens.
Im praktischen Wirtschaftsablauf erhält der Autohändler K3 $900 für das verkaufte Auto und legt dieses Geld komplett als Spareinlage fest. Mit diesem Betrag zahlt er nicht seine Schuld gegenüber dem Vorbesitzer des Autos, noch kauft er ein anderes Auto. Ein unrealistische Bild unserer Wirtschaft, und doch fand dieses Modell kritiklos Eingang in die Fachliteratur.
Zurückkehrend zur oben genannten Beispieltabelle kann festgehalten werden, dass im gesamten Bankensystem nach den beschrieben Vorgängen $1.000 Bargeld vorhanden sind sowie $10.000 Spareinlagen und $9.000 Kredite. Kaufkraftfähige Zahlungsmitteln bei den Kunden sind nicht mehr vorhanden.
Basis
Weshalb aber die komplizierten
mehrfachen Bargeld-/Kreditwechsel?
Ein Beispiel mit nur einer Bank. Kunde K1 hat die obligatorische Bareinlage von $1.000 getätigt. Kunde K12 nimmt bei der Bank A ein Darlehen über $9.000 auf und muss dieses nach 6 Monaten zurückzahlen. Die beim Kredit entstehende Einlage überweist er an den Kunden K11. Kunde K11 verpflichtet sich, dieses Guthaben für die nächsten 6 Monaten nicht in Anspruch zu nehmen. Er hat jetzt der Bank ein Darlehen gewährt. Ein Blick auf die Bilanzsummen der vorhergehenden Abbildung zeigt, dass kein Unterschied zu der Konstruktion mit den vielfachen Bargeld-/Darlehenswechseln im Bankensystem besteht. Wie bereits zuvor angedeutet, kann dieses Beispiel keinesfalls für Abläufe im tatsächlichen Wirtschaftsleben stehen. Kunde K11 hat eine Ware, z.B. ein Auto verkauft und legt das Geld auf einem Sparkonto an? Dies wird ein Ausnahmefall bleiben. In der Regel wird er mit dem eingenommenen Geld weitere Geschäfte tätigen, denn von diesen Geschäften lebt er schließlich.
Die dargestellten unendlich vielen Bargeld-/Darlehenswechsel sind reine Pseudovorgänge und beinhalten keinen praktischen Erkenntnisgewinn. Sie verwirren nur unnötig.
Kern der Theorie
Ohne das unnötige Beiwerk von "multipler Geldschöpfung" gelangt man schnell an den tatsächlichen Kern der Theorie. Gemäß der orthodoxen Theorie kann die Summe der Spareinlagen und Kredite erheblich über der Summe des Kassenbestandes einer Bank liegen. Maßgebend ist lediglich, dass die Summe der Spareinlagen mindestens so hoch ist wie die Summe der Kredite, bei gleichem Betrag und gleicher Fristigkeit von Spareinlagen und Krediten. Die Bank tritt als "Kreditvermittler" auf. Es werden längerfristige Bankguthaben geschaffen, jedoch keine kaufkraftwirksamen Zahlungsmittel.
Geldschöpfungsmultiplikator heute
Das
vorgenannte Modell wird auch teilweise heute noch an Hochschulen gelehrt,[4] obwohl es nur noch theoretischen Charakter besitzt. Hierauf wird auch verschiedentlich verwiesen. Die nebenstehende Formel ist dem Schülerbuch "Geld und Geldpolitik" der Deutschen Bundesbank von 2009 entnommen. Bei einem Mindestreservesatz von 1 % und einer Bargeldabhebequote von 0,75% ergibt sich ein Multiplikator von 57.[5][6] Der von Phillips nur mit dem Begriff "Barreserve" bezeichnete Faktor wurde hier aufgeteilt. Die Deutsche Bundesbank stellte zur Erklärung des Multiplikators fest:
In der Ausgabe von 2010 ist diese Formulierung nicht mehr enthalten.
Realer Geldschöpfungsmultiplikator
Als realer Geldschöpfungsmultiplikator[7] wird das tatsächliche Verhältnis der kaufkraftwirksamen Geldmenge M1 zur Geldbasis bezeichnet. Es werden jedoch auch manchmal die Verhältnisse der anderen Geldmengen M2 und M3 zur Geldbasis benutzt. Bezogen auf M1 ergibt sich für das Jahr 2013[8][9] ein Geldschöpfungsmultiplikator m von 3,8 (M2, m = 6,5; M3, m = 7).
Steuerung der Geldmenge
Mit der Beschreibung des Geldschöpfungsmultiplikators wird der Eindruck vermittelt, dass die Geldmenge in der Wirtschaft von der Geldbasis sowie den Faktoren Mindestreservesatz und Bargeldabzugsquote abhängig sei. Dagegen sprechen jedoch zwei Argumente. Bei dem heutigen Mindestreservesatz von 1 % kann nicht mehr davon gesprochen werden, dass die Mindestreserve einen wahrnehmbaren Einfluss auf die Höhe der Geldmenge besitzt.
Zweitens muss die weit wichtigere Frage beantwortet werden: "Wird die Geldmenge in der Wirtschaft im Wesentlichen von der Zentralbank bestimmt oder aber von den Wirtschaftsteilnehmern und den Banken?"
Die Erzeugung von "Geld" wird im heutigen Kreditgeldsystem überwiegend von den Wirtschaftsteilnehmern veranlasst. Ohne deren Kreditbedarf sind die Möglichkeiten der Geschäftsbanken wie auch die der Zentralbank extrem eingeschränkt. Geschäftsbanken und Zentralbanken können zwar Wertpapiere von Nichtbanken ankaufen und damit Geld erzeugen. Die bei weitem größte Geldschöpfung findet jedoch durch Kredite der Geschäftsbanken an Nichtbanken statt. Somit liegt der Anstoß zur Erzeugung von Geld größtenteils in den Händen der Nichtbanken. Ein Automatismus, dass durch die Vergrößerung der Geldbasis auch die Geldmenge in der Wirtschaft steigt ist praktisch nicht vorhanden. Es ist, auch bedingt durch die besondere Konstruktion der Mindestreserve eher das Gegenteil zu beobachten. Wenn die Geldmenge in der Wirtschaft steigt, wird auch nachträglich die Mindestreserveeinlage von den Banken angepasst.
Siehe auch:
Zusammenfassung
(160)Die Geldmenge in der Wirtschaft wird nicht mehr durch die Geldbasis und den Geldschöpfungsmultiplikator von der Zentralbank gesteuert. Der reale Geldschöpfungsmultiplikator drückt lediglich noch das tatsächliche Verhältnis der vorhandenen Geldmenge zur Geldbasis aus.
Einzelnachweise
<references>
- ↑ Chester Arthur Phillips: Bank Credit: A Study of the Principles and Factors Underlying Advances Made by Banks To Borrowers. The Macmillian Company, New York 1931.
- ↑ Otto Hübner
- ↑ Chester Arthur Phillips, Orthodoxe Kredittheorie
- ↑ Übung Universität Ulm, Wirtschaftswissenschaften Fakultät für Mathematik und WirtschaftswissenschaftenAbruf 25.10.2014
- ↑ Interaktive Sciptsseite zum Geldangebot Skript zur Makroökonomie, Abruf 27.10.2014
- ↑ Kassenbestand. Dieser Durchschnittswert wird auch für die Bargeldabzugsquote angenommen.
- ↑ Multiple GiralgeldschöpfungLuk Korbmacher, Abruf 27.10.2014
- ↑ Geld und Geldpolitik Schülerbuch für die Sekundarstufe II der Deutschen Bundesbank, Ausgabe 2014, Seite 72, Abruf 27.10.2014
- ↑ EZB Wochenbericht, Konsolidierter Ausweis des Eurosystems zum 27. September 2013